Ein verlassenes Dorf, sein letzter Bewohner und eine Chance für die Zukunft

José Luis González sitzt auf einer Mauer, deren harte Sitzfläche er mit einem weichen Kissen dämpft. Mitten in seinem Dorf, ohne spielende Kinder oder arbeitende Menschen, sitzt er und blickt nachdenklich in die Ferne. Das tut er sehr oft, denn viel zu tun gibt es in der Abgeschiedenheit der Berge nicht. Dass man diese Aussicht gerne genießt, können sich auch die Wanderer gut vorstellen, die in El Draguillo manchmal vorbeikommen. José Luis hat sie jeden Tag, jede Woche, das ganze Jahr. Ob sie für ihn nach 75 Jahren noch etwas Besonderes ist oder ob er sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt, verrät sein Blick nicht.

Die Ruhe hier oben hat einen Grund. Die Zivilisation des 21. Jahrhunderts hat das kleine Bergdorf und seine 30 Häuser nämlich noch nicht erreicht. Hier gibt es kein Internet, kein Telefon, kein Fernsehen, kein Radio, ja nicht einmal Strom. Den hat es hier nie gegeben, auch wenn man ihn schon oft versprochen hat. Gekommen ist er nie, dieser Saft, der das Blut der modernen Lebensweise ist. Wahrscheinlich ist dieser Umstand der Hauptgrund dafür, dass José Luis der einzige Bewohner des Ortes ist, der hier das ganze Jahr über ausharrt.

Nur in den Sommermonaten kommt manchmal so etwas wie Leben in das Dorf, wenn die ehemaligen Nachbarn, die längst weggezogen sind, zurückkommen in ihre Häuser, um ein paar Tage in der alten Heimat in den Bergen zu verbringen, ohne die Hektik und die ständigen Ablenkungen des unruhigen Lebens in der Stadt, die Don José Luis nur von einigen wenigen Besuchen kennt. Der Weg dorthin ist nicht ganz einfach zu bewältigen, da es seit Anfang 2011 keine Straße mehr gibt, die diesen Namen wirklich verdient hätte. Starke Regenfälle und ein Bergrutsch haben die Verbindung zur Zivilisation fast vollständig gekappt.

González ist glücklich

Seitdem ist es noch ruhiger geworden rund um den Drachenbaum, dem der kleine Ort wohl seinen Namen zu verdanken hat. Trotzdem will der alte Mann sein Dorf nicht verlassen. Er ist davon überzeugt, dass er in der Welt da draußen nicht lange überleben würde. Sein ganzes Leben hat er mit der Arbeit in der Landwirtschaft verbracht, kann sich nicht vorstellen, dass er woanders glücklicher sein könnte. Er ist schon froh, dass sein Sohn jeden Tag mit seinem Motorrad vorbeischaut, um ihn mit Lebensmitteln und der Medizin zu versorgen, auf die er nach einigen Operationen jetzt angewiesen ist.

Dann sitzen sie für einige Zeit gemeinsam auf der harten Bank aus Stein. In diesen Gesprächen erfährt der Vater vom Sohn etwas über das Leben jenseits von El Draguillo. Von den Schwierigkeiten, in denen das Land zur Zeit steckt, bekommt er sonst in seiner Einöde nur wenig mit, denn hier hat sich nichts geändert. Er vermisst all die Dinge nicht, die sich die Stadtbewohner nun nicht mehr leisten können, weil das Geld knapp geworden ist. José Luis hat sie nie gekannt. Auch nicht dieses Internet, durch das man angeblich mit der ganzen Welt in Kontakt treten kann. Wenn man in El Draguillo im Anaga-Gebirge auf Teneriffa lebt, reicht der Kontakt zu den wenigen Menschen, die dann und wann auf ihren Wanderungen durch die Berge in dem kleinen Dorf vorbeikommen und es einfach nur schön finden.

Neues Leben in alten Mauern

Vielleicht erlebt es aber Don José Luis doch noch, dass wieder mehr Leben in sein Dorf kommt. Der Initiativkreis der Bewohner und Freunde von Anaga ist davon überzeugt, dass El Draguillo kein Geisterdorf bleiben muss. Mit etwas Fantasie und nicht allzu viel Geld könnte der Ort wiederbelebt werden: als Ökodorf, das Naturliebhabern und Wanderern als lohnendes Ziel erscheinen könnte. Die Voraussetzungen dafür sind vorhanden, denn es gibt hier keine Altlasten zu beseitigen. Der vermeintliche Fortschritt, der El Draguillo nie erreicht hat, würde den Aufbau des ersten nachhaltig bewirtschafteten Touristendorfes nicht behindern.

Sollten diese Pläne tatsächlich umgesetzt werden, könnte der alte Mann, der hier so lange allein ausgeharrt hat, doch noch nähere Bekanntschaft machen mit der modernen Welt, die er eigentlich nie vermisst hat. Wahrscheinlich würde es ihn nicht sonderlich stören. Hauptsache, er kann weiter auf seinem weichen Kissen auf der harten Mauer sitzen und den Blick aufs Meer genießen, so wie er es in den Jahrzehnten zuvor auch getan hat.

Foto von pano_philou – flickr

5 thoughts on “Ein verlassenes Dorf, sein letzter Bewohner und eine Chance für die Zukunft

  1. Guten Tag lieber Thomas,
    genau das richtige für mich und beim beleben dieser Gegend, des Dorfes würde ich gern mitwirken.
    Wie und wo kann man mehr darüber erfahren.
    Liebevolle Grüße vom Karl

    • Hallo Karl,

      leider gibt es keine offizielle Stelle und auch keine Organisation an die man sich wenden könnte. Am besten schaust dur dort einfach mal vorbei.

      Viele Grüße
      Thomas

  2. Also ich bin letztes Jahr von Almagaciá aus hingewandert. Die Straße ist neu geschoben und sehr breit und relativ gut befahrbar. https://teneriffawandertagebuch.wordpress.com/2014/12/08/08-11-2014-el-draguillo-oder/ Ich persönlich würde gerne mal da oben übernachten auf meinen Touren durch und über das Anagagebirge und bedauere es sehr, dass es keine einfachen Logierplätze gibt. Muss kein Luxus haben, denn dann ist die Idylle vorbei, einfach eine Hütte, Feldbett, WC , das reicht doch schon. Freundliche Grüße vom Teneriffawandertagebuchblog, Sylvia Wollny

  3. Hallo Thomas,

    seit dem interessanten und spannenden Beitrag von Dir ist ja schon einige Zeit vergangen. Deshalb die Frage, ob du eventuell sagen kannst wie sich die Situation in den letzten beiden Jahren dort in dem verlassenen Dorf entwickelt hat. Sylvia Wollny schreibt ja in Ihrem Comment, dass sich die Erreichbarkeit wieder verbessert hat. Wie sieht die Situation sonst aus? Hast Du da neue Informationen? Wir wollen nämlich dieses oder kommendes Jahr nach Teneriffa, da wäre das eventuell ganz interessant.

    Herzliche Grüße

  4. Hallo Matthias Müller,

    eins kann ich jetzt schon sagen, es wird in den letzten 10 Monaten seit meiner Tour da weder eine Herberge noch ein Lokal aufgemacht haben, das einzige ist, das die Straße bzw. die Schotterpiste neu geschoben war. Bilder sind ja in meinem Wanderbericht siehe Link in meinem vorigen Post und zeigen den Zustand des Weges. Ob eine nachhaltige Tourismusszene umgesetzt werden kann, wage ich nach der Ernennung zum Unesco Biosphären-Gebiet zu bezweifeln. Außerdem wird das neue Vermietungsgesetz auch hier greifen und die Inselregierung bestimmt keine Zona touristica einrichten. Also mit Schlafsack und Zelt die Nacht und Natur genießen oder mit dem letzten Bus abends spät den Strand verlassen. Gönnen wir der Insel einige kleine ruhige beschauliche Orte.

    In diesem Sinne viele Grüße vom Teneriffawandertagebuchblog, Sylvia Wollny

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